Fanfiction

Im Fahrstuhl

Autor: Resi

Nicht nur, daß Marie wohl die ganze Zeit lang gewußt hatte, daß sie nicht zufällig auch hier im Fahrstuhl war, sondern daß sie ein Fan war - nein, sie erinnerte sich an sie, weil sie ihr geschrieben hatte. Sie erkannte sie wieder, weil sie ihr ein Foto mitgeschickt hatte. "Auf dem Foto waren deine Haare noch ein bißchen kürzer", sagte Marie. Sandra konnte nicht glauben, was sie da hörte, aber es stimmte, auf dem Foto waren ihre Haare gerade mal bis zu den Schultern gegangen. Jetzt hingen sie ihr fast bis zum Po herunter. Sie nickte mit offenem Mund. Ihr fehlten die Worte. Als sie sie endlich wiederfand, fragte sie: "Erinnerst du dich an alle Briefe, die du kriegst?" Im selben Moment fragte sie sich, ob es richtig war, Marie einfach mit "du" anzureden, denn sie war immerhin eine über vierzig Jahre alte Frau, sie begegneten sich an diesem Tag das erste Mal und Marie hatte ihr niemals das "du" angeboten. Doch Marie schien sich nicht daran zu stören. Sie war es gewohnt. "Nicht an alle", sagte sie, "Aber an einige schon." Sandra spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und sie heiß und rot werden ließ. Sie begann fieberhaft zu überlegen, was sie geschrieben hatte, und ob irgendetwas Peinliches darin gestanden hatte.

Aber sie konnte sich nicht richtig daran erinnern. Es war ja nicht ihr erster Brief an Marie gewesen. "Danke übrigens für den Brief", sagte Marie. "B-bitte", stotterte Sandra. In diesem Moment kam ihr wieder in den Sinn, daß sie ja wiederum einen Brief für Marie dabei hatte. Sie überlegte, ob sie ihn ihr wirklich geben sollte. Doch dann erinnerte sie sich daran, wie lange sie daran herum gefeilt hatte. Sie hatte sich die größtmögliche Mühe gegeben, in keiner Weise aufdringlich zu sein oder Dinge zu schreiben, die Marie unangenehm sein könnten. Andererseits hatte sie auch wieder Dinge geschrieben, die sie ihr niemals direkt ins Gesicht sagen könnte - auch jetzt nicht, da sie mit Marie ganz allein und ohne Zuhörer war. Sie zog den Brief aus ihrer Tasche und hielt ihn Marie entgegen. "Ich hab dir nochmal geschrieben..." "Oh", Marie zog die Augenbrauen hoch - sie sah tatsächlich erfreut aus. Nahm Sandra den Umschlag aus der Hand. "Danke sehr. Ich werde ihn später lesen." "Ist in Ordnung", sagte Sandra und war froh darüber, denn es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn Marie ihn in ihrem Beisein gelesen und sofort über ihre Gefühle Bescheid gewußt hätte. Marie betrachtete den Umschlag, den Sandra mit kleinen glänzenden Aufklebern verziert hatte und auf den sie in geschwungener Schrift "Für Marie" geschrieben hatte. Marie drehte und wendete den Umschlag, und Sandra beobachtete sie aus dem Augenwinkel dabei.

Sie fragte sich, ob Marie jeden Brief, den sie bekam, so aufmerksam betrachtete, bevor sie ihn öffnete. Vermutlich nicht. Dann fragte Marie: "Wieviel Zeit ist schon vergangen?" Sandra sah auf ihre Uhr. "Keine zwanzig Minuten jedenfalls." Marie seufzte tief. "Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, aber die Luft hier drin wird immer schlechter." Das wurde sie wirklich. Es wurde immer wärmer und die Luft begann, abgestanden zu riechen. Vielleicht war wirklich die Lüftung kaputt. "Soll ich nochmal Alarm drücken?" fragte Sandra fürsorglich. "Laß mal", Marie winkte ab. "Die werden schon irgendwann kommen." Sandra sah Marie an; sie war etwas blasser geworden. "Alles in Ordnung?" fragte Sandra besorgt. Marie nickte wortlos. Einige Zeit verging, in der sie beide nichts sagten. Und dann ging Marie irgendwann in die Hocke, setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie stützte ihre Stirn in ihre Handflächen. "Wirklich alles in Ordnung?" fragte Sandra noch einmal. "Es ist nur mein Kreislauf, glaube ich." Sie blickte zu Sandra hinauf. "Ich habe noch nicht so viel gegessen, weißt du." Sandra fiel ein, daß sie in ihrer Handtasche eine kleine Flasche Mineralwasser hatte.

Sie holte sie flugs heraus und hielt sie Marie entgegen. "Möchtest du?" "Oh ja, gerne." Marie drehte den Verschluß auf und nahm einen kleinen Schluck. "Trink so viel du willst", forderte Sandra auf und beobachtete verstohlen und nicht ganz ohne heimliches Behagen, wie Maries Lippen die Flaschenöffnung umschlossen. Sie nahm noch einige Schlucke und gab Sandra die Flasche zurück. "Danke sehr." Sandra betrachtete die Flaschenöffnung eine Weile, als ob dort irgendwelche Spuren zu sehen sein könnten, bevor sie den Verschluß wieder zudrehte. "Es ist wirklich warm", sagte Marie stimmlos, und Sandra beschloß, noch einmal den Alarmknopf zu drücken. Der Mann meldete sich. "Wie lang dauert es denn noch?" fragte Sandra energisch. "Die Leute sind schon unterwegs", antwortete der Mann, "Aber sie stehen im Stau, es ist eine ungünstige Uhrzeit." "Der Dame, mit der ich hier feststecke, geht es nicht besonders gut", gab Sandra zurück, "Die sollen sich beeilen." "Dame?" fragte der Mann. "Sie meinen die Prominenz?" "Ja, genau die. Beeilen Sie sich." "Wer ist es denn nun eigentlich, wenn ich fragen darf?"

Sandra sah Marie fragend an, und Marie machte eine wegwerfende Handbewegung, die bedeutete, daß sie es ruhig sagen sollte. "Marie Fredriksson", sagte Sandra also in das Mikrofon. "Marie wer?" fragte der Mann. "Fredriksson. Die von Roxette, wissen Sie..." "Ach die." Jetzt hatte er begriffen. "Die blonde, ja? Sagen Sie ihr, wir tun unser bestes." "Tun Sie das bitte auch." Die Verbindung war wieder beendet. Sandra blickte Marie entschuldigend an. "Es gibt immer noch Leute, die deinen Namen nicht kennen..." Marie zuckte mit den Schultern. "Ich könnte dir auch nicht alle Vor- und Nachnahmen zum Beispiel der Rolling Stones sagen." "Manche denken auch, ‚Roxette' wäre dein Vorname." Marie lachte leise. Doch dann wurde ihr Gesicht wieder ernst, drückte Unbehagen aus. Es ging ihr ganz offensichtlich schlecht. Sandra ärgerte sich, daß sie nicht irgendetwas Essbares dabei hatte. Auch sie selbst hätte gut etwas vertragen können. Es wurde wirklich immer wärmer und drückender in der kleinen Kabine. Bald konnte auch Sandra nicht mehr stehen, und sie setzte sich, mit einem kleinen Abstand zu Marie, ebenfalls auf den Fußboden. Maries Atem ging schwer. "Hast du nochmal deine Flasche da?" fragte sie mit matter Stimme. Sandra beeilte sich, sie ihr zu geben.

Marie trank sie beinahe halb leer. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. "Langsam finde ich es nicht mehr komisch", sagte sie leise und schwach. Sandra wünschte sich, irgendetwas dafür tun zu können, um die Sache zu beschleunigen. So sehr sie es auch genoß, mit Marie zusammen zu sein, so unwohl fühlte sie sich doch dabei zu wissen, daß es Marie nicht gut ging. Ihr eigenes körperliches Wohl ließ ebenfalls nach, doch das registrierte sie nur am Rande. "Sie kommen bestimmt gleich", versuchte sie, Marie und sich selbst zu beruhigen. Marie sagte gar nichts mehr. Sie schloß die Augen und lehnte den Kopf nach hinten an die Wand. Sandras Brief lag zwischen ihren Beinen, und sie hielt Sandras Mineralwasserflasche mit beiden Händen umklammert. Sandra hätte gerne auch einen Schluck daraus genommen, denn ihre Kehle war mittlerweile knochentrocken, aber sie wagte es nicht, sie Marie aus den Händen zu nehmen. Statt dessen sah sie sie von der Seite an und stellte insgeheim fest, daß sie einige kleine Fältchen mehr an den Augen hatte, als man sie auf den meisten Fotos sah, und sie sah, daß Marie kurze, kaum sichtbare blonde Härchen am Haaransatz hatte. Sie hatte diese Härchen schon in so manchen Videoclips gesehen, wenn Marie von Scheinwerfern von hinten beleuchtet worden war. Ihre Haut mußte an diesen Stellen unheimlich weich sein. Weich wie Samt.

Plötzlich drehte Marie den Kopf zur Seite und sah Sandra direkt in die Augen. Sie sah müde und abgekämpft aus. "Weißt du", sagte sie, "zuerst habe ich mich geärgert, daß du noch mit in den Fahrstuhl gesprungen bist. Inzwischen bin ich froh darüber. Nicht auszudenken, wenn ich hier allein sitzen würde." Sandra lächelte verlegen. "Wie bist du überhaupt ins Hotel gekommen?" wollte Marie wissen. "Ich dachte, unsere Aufpasser hätten niemanden vorbeigelassen." Sandra überlegte kurz, ob sie es Marie erzählen sollte. Was soll´s, dachte sie dann, es ändert ohnehin nichts. "Wir sind durch eine Hintertür reingeschlichen." "'Wir'?" "Meine Freundin und ich." "Die Brünette, die hinter Per hergelaufen ist?" Sandra staunte über Maries gigantisches Gedächtnis. "Ja, genau die." Marie schmunzelte. "Wer weiß, vielleicht steckt sie zur selben Zeit mit Per in einem anderen Fahrstuhl fest." Das wäre ihr zu wünschen, dachte Sandra, doch sie nahm sich zusammen, es nicht laut zu sagen. "Aber sie hätte keinen Spaß daran, glaube ich", sagte Marie, "Per haßt enge und verschlossene Räume. Ich auch, übrigens, aber bei ihm ist es schlimmer."

Sandra stellte sich vor ihrem inneren Auge vor, wie Andrea mit Per in einem Fahrstuhl festsaß und Per sie beinahe verrückt machte mit seiner Hysterie. Sie mußte lachen und gluckste in sich hinein. Marie nahm noch einen Schluck aus Sandras Flasche. "Entschuldigung", sagte sie dann und gab sie Sandra zurück, "Ich trinke dir ja alles weg." "Das macht nichts. Wirklich nicht." "Du solltest auch was trinken, du siehst auch ein bißchen blaß aus." Okay, dachte Sandra, wenn du es unbedingt so willst, und setzte den Flaschenhals, der sich eben noch zwischen Maries Lippen befunden hatte, an ihren Mund. Verrückte kleine Gedankenfetzen huschten durch ihren Kopf, während sie trank, Gedanken, die sie eigentlich nicht zu denken wagte und von denen sie froh war, daß Marie sie nicht kannte und niemals kennen würde. Plötzlich klopfte von außen jemand an die Fahrstuhltür. Sandra und Marie fuhren gleichermaßen erschrocken zusammen. "Hallo?" rief eine Männerstimme von außen. Sandra sprang sofort auf und ging nah an den schmalen Türspalt zwischen den beiden Schiebetüren. "Hallo!" schrie sie. "Wir holen Sie jetzt raus!" rief der Mann. "Treten Sie zurück. Vorsicht." Sandra tat, was er sagte. Auch Marie war jetzt aufgestanden. Nebeneinander standen sie an der der Tür gegenüberliegenden Wand und warteten gespannt auf das, was kommen würde. Etwas schob sich zwischen die beiden Türelemente, ein Brecheisen oder ähnliches, und dann wurde die Tür auseinander gedrückt.